- Methoden der Zukunftsforschung
- Methoden der ZukunftsforschungAls die Futurologie sich konstituierte, war das mathematische Rüstzeug für deren besondere Bedürfnisse noch nicht so gut entwickelt. Das hat sich inzwischen geändert. Selbst überaus komplexe Sachverhalte lassen sich mit Computern simulieren. Eine große Methodenpalette liefert dafür das theoretische Rüstzeug. Doch kein noch so ausgeklügeltes Zukunftsmodell kann — selbst wenn dafür die leistungsfähigsten Supercomputer der Welt eingesetzt werden — sichere Aussagen über zukünftige Entwicklungen machen. Jede Analyse liefert nur mehr oder minder wahrscheinliche Aussagen. Deshalb bleibt die Berechenbarkeit der Zukunft bis auf weiteres eine Utopie.Ein Zweites kommt hinzu: Selbst wenn man ziemlich genaue Abbilder der Zukunft erstellen könnte, wäre damit die Zukunft noch nicht gewonnen. Das liegt nicht nur an der beklagten Blindheit der Macht, der Unwissenheit der Politik. Es hat auch damit zu tun, dass viele Entscheidungen — und oft sind es gerade die elementaren — gar nicht rein rational getroffen werden. Stets sind eben auch andere Faktoren im Spiel, die sich der Berechenbarkeit auf jeden Fall entziehen.Systematisch an die Zukunft herangehenIn gewisser Weise darf Jules Verne als erster Systematiker der Zukunftsschau gelten. Er blieb zwar stets ein Meister der literarischen Utopie, doch in einem Punkt unterschied er sich von anderen Vertretern des Genres. Seine Vorhersagen entsprangen nicht nur der Fantasie. Er entwickelte eine Systematik der Prognose, die verglichen mit der heutigen futurologischen Praxis modern wirkt.Russische Wissenschaftler zählten einmal rund 300 Methoden und Ansätze, mit denen man der Zukunft erfolgreich einige ihrer Geheimnisse entreißen kann. Grob gesagt lassen sich die wichtigen Hilfsmittel der Zukunftsforschung drei Kategorien zuordnen, die keineswegs auf die Futurologie zugeschnitten sind, sondern die durchaus auch viele andere Disziplinen verwenden: induktive Methoden, explorative Verfahren und die normative Vorausschau.Zu den induktiven Methoden zählt etwa die freie Assoziation oder, salopp ausgedrückt, das kreative Spintisieren. Brainstorming ist der Versuch, das ungelenkte Spiel der Gedanken nutzbar zu machen, indem Experten zunächst ohne rationale Filter und vernünftige Einwände auch scheinbar absurde Ideen entwickeln und diese für eine spätere Analyse sammeln. Während einer Sitzung zum Thema Logistik könnten dann neben neuen Verkehrssystemen oder dem Ersatz klassischer Transportleistung durch Informationsübertragung auch so exotische Dinge wie ein Antischwerkraftantrieb oder das Versetzen von Materie durch noch unbekannte Hyperräume stehen. Mit anderen Worten: Ein Futurologe darf sich auch in der Science-Fiction Anregungen holen und sollte dies zuweilen vielleicht sogar tun. Eher als die anderen Methoden bietet sich bei der freien Assoziation die Chance, wirklich neue Strömungen künftiger Entwicklung zu erahnen, die sich noch nicht in der Gegenwart abzuzeichnen beginnen. Andererseits läuft man auf diesem Weg stets Gefahr, seiner Fantasie zu sehr freien Lauf zu lassen, was dann rasch Zweifel an der Seriosität einer Untersuchung nach sich ziehen kann.Die beiden anderen Gruppen von Methoden basieren dagegen eher auf solidem Rüstzeug. Ihnen gemeinsam ist, dass sie ihre Prognosen und Zukunftsbilder auf gegenwärtige Fakten gründen und für die Vorausschau objektive, zum Teil mathematische Verfahren einsetzen. Die Gruppe der explorativen Methoden arbeitet zum Beispiel mit Zeitreihenuntersuchungen, bei denen Trends in die Zukunft extrapoliert werden. Auch die historische Analogie ist eine explorative Methode. Sie beruht darauf, dass technische Entwicklungen nach einem gemeinsamen Grundmuster — also analog — ablaufen.Als Antrieb für Verkehrsmittel etwa nutzte der Mensch unterschiedliche Prinzipien. Dabei waren technische Neuerungen nicht immer originäre Entwicklungen für gerade diesen Zweck, wie die Beispiele Dampfmaschine und Kernspaltung zeigen. Dennoch versuchte man mehr oder minder erfolgreich, beides auch als Antriebe für Straßen- und Schienen-, Wasser- oder Raumfahrzeuge zu nutzen. Für das Auto jedoch ist weder das eine noch das andere besonders praktikabel. Hier setzte sich zunächst der Verbrennungsmotor durch. Doch gilt dies auch für alle Zukunft? Analog zu früheren und derzeit laufenden Entwicklungen kann man also auf relativ sicherem Boden danach fragen, ob nun künftig ein Elektromotor mit Batterien, Brennstoffzellen oder aber verbesserte Verbrennungsmotoren und pflanzliche Treibstoffe unsere Autos fortbewegen. Die Prognosen fußen dabei auf der Erkenntnis, dass man aus vergangenen Ereignissen künftige Entwicklungen berechnen kann, wenn die Gesetzmäßigkeiten bekannt sind und sich die äußeren Umstände nicht ändern. Genau das ist in der Praxis gerade nicht unbedingt der Fall, weshalb extrapolative Prognosen auch nur für relativ kurze Zeiträume einigermaßen verlässlich sind.Viele Phänomene der Natur, der Wirtschaft und der Gesellschaft zeigen zum Beispiel einen s-förmigen Verlauf. Das gilt für das Wachstum einer Population von Algen ebenso wie für die Entwicklung des Erdölverbrauchs oder die Entfaltung der Kreativität eines Künstlers. Stets beginnt die Entwicklung mit einem sanften Anstieg, die dann ein steiles, exponentielles Wachstum erfährt, bevor sie sich im oberen Bereich abflacht und am Ende in eine Sättigung übergeht. Die Kenntnis genügend großer Teile einer solchen Kurve erlaubt es, die ganze Kurve zu konstruieren. Das geschieht zunächst aufgrund einer mathematischen Funktion, welche die Kurvenform beschreibt. Eine reale Entwicklung spiegelt die Kurvenfunktion jedoch nur dann wider, wenn sich das betrachtete Phänomen stetig über die Zeit hinweg entwickelt. Genau diese Bedingung ist jedoch nur selten erfüllt: Ein Gifteintrag kann die Algenpopulation in einem Teich zum Absterben bringen; der weltweite Erdölverbrauch, der in jüngerer Vergangenheit nicht mehr ganz den früheren stürmischen Verlauf zeigte, könnte durch die wachsende Wirtschaftskraft von Schwellen- oder Entwicklungsländern erneut exponentiell ansteigen; und ein Künstler, dem die Kritiker eine glänzende Zukunft voraussagen, verliert eventuell durch einen persönlichen Schicksalsschlag oder eine Krise sein kreatives Potenzial.Gerade im wirtschaftlichen Bereich benutzt man sehr häufig die Extrapolation von S-Kurven für die Prognostik. Nach diesem Muster setzen sich auch technische Innovationen am Markt durch: Zu Beginn greifen erst die »Pioniere« die Neuerung auf — die Marktverbreitung kommt nur schleppend voran. Doch werden die Vorteile der Innovation sichtbar, springen immer mehr »Nachahmer« auf den technologischen Zug auf — die Marktverbreitung steigt steil an, der Produktabsatz wächst exponentiell. Am Ende kommen noch die »Nachzügler« hinzu, die der Innovation zunächst skeptisch oder ablehnend gegenüber standen. Am Ende der »Innovationskarriere« erreicht die Kurve den Sättigungsbereich — die technische Innovation hat den Markt durchdrungen, nur noch Ersatzbeschaffungen finden statt.Fantasie und Methodenmix sind gefragtDie dritte Gruppe von Methoden, die normative Vorausschau, setzt auf Planungsinstrumente wie Entscheidungsmodelle oder Netzplantechnik. Diese Methoden dienen dazu, Prozesse oder Entwicklungen in ihren Abläufen transparent zu machen. Dabei werden Fragen gestellt wie: Welche Faktoren beeinflussen den betrachteten Prozess wie stark? Wie beeinflussen sich die für eine Entwicklung relevanten Faktoren wechselseitig? Gibt es Hierarchien unter den Einflussfaktoren? Die Antworten liefern ein kybernetisches Modell von dem Prozess, das Aussagen darüber zulässt, wie Veränderungen einzelner oder mehrerer Faktoren das Systemverhalten — und damit den zukünftigen Status des Systems — beeinflussen werden.Denn auch scheinbar rein technische Fragen beinhalten doch stets weit mehr als nur Technik. Deshalb wird man allein auf dieser Basis auch keine befriedigende Antwort darauf bekommen, ob wir nun morgen etwa mit Batterie und Elektromotor oder aber mit Brennstoffzellen herumfahren werden. Künftige Mobilität und Antriebstechniken hängen nämlich auch von sich ändernden Gewohnheiten der Menschen ab, von möglichen neuen Einsichten oder Bestimmungen, ganz allgemein also vom Wandel in einer Gesellschaft. Und die Futurologie erhebt ja den Anspruch, im Sinn einer wünschenswerten Zukunft diesen gesellschaftlichen Prozess mitzugestalten. So könnte beispielsweise die technische Analyse der Option Verbrennungsmotor plus Biosprit sagen: Schon bei der gegenwärtigen Fahrzeugdichte braucht man riesige Anbauflächen für die Pflanzen, aus denen der Treibstoff gewonnen werden soll; es ist unbedingt nötig, hier den Einfluss auf die Umwelt genauer zu studieren. Beim Elektroantrieb hingegen mag die Untersuchung vielleicht das Konsumentenverhalten als wichtige Einflussgröße orten: Dessen Nachteile könnten als zweitrangig erscheinen, falls eine kaufkräftige alternative Schicht es schick finden sollte, mit putzigen Elektroautos ihren Stadtverkehr zu erledigen und den nötigen Strom aus Solartankstellen zu zapfen. Am Ende stünde dann vielleicht ein Szenario, wo verschiedene Techniken nebeneinander Mobilität sichern, eben je nach Zweck — vielleicht sogar einschließlich Pflanzentreibstoff für landwirtschaftliche Zugmaschinen.Jede der verfügbaren Methoden besitzt unterschiedliche Stärken und Schwächen. Keine ist notwendigerweise einer anderen Methode unter- oder überlegen. Vielmehr erweist es sich meist als sinnvoll, die verschiedenen Ansätze zu vernetzen. Und selbst dann bleibt die Unsicherheit noch groß: Im Grund kann schließlich alles, was in der Vergangenheit geschah, für Gegenwart und Zukunft bedeutsam sein. Zudem kann sich die Bedeutsamkeit eines Faktors ändern. Ein Beispiel: Hohe Herstellungskosten limitieren heute den praktischen Einsatz der Photovoltaik sehr stark. Technische Innovationen könnten indes in Zukunft den Preis von Solarzellen sinken lassen. Der Anteil solar erzeugten Stroms würde dadurch vielleicht sehr viel stärker steigen als dies in gegenwärtigen Prognosen zum Ausdruck kommt. Andererseits könnte es sein, dass heute als wenig relevant eingestufte Einflussfaktoren nach dem Wegfall der Kostennachteile für Solarstrom als Bremse im Kampf um Marktanteile agieren. Deshalb ist in der Futurologie über das Faktensammeln hinaus in hohem Maß Fantasie gefragt, um die Palette der Ansätze in dem Sinn fruchtbar werden zu lassen, dass die in der Gegenwart zu fällenden Entscheidungen in eine wünschenswerte Zukunft führen.Szenarios helfen planenDas heute vielleicht wichtigste Hilfsmittel für Prognosen sind Szenarios, also Analysen über ein relativ breites Feld ökologischer, technischer, wirtschaftlicher oder politischer Entwicklungen. Szenarios beschreiben etwa Trends der Telekommunikationstechnik, der ökonomischen Globalisierung oder der politischen Verhältnisse. Ihre Wurzel liegt in militärischen »Kriegsspielen«, mit denen Militärstrategen die Konsequenzen von Verteidigungs- und Angriffsoptionen beurteilten. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Szenariotechnik Eingang auch in zivile Fragestellungen. In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckten Planer und Organisationsexperten ihre Vorzüge und entwickelten sie zu einem recht scharfen Werkzeug weiter.Hinter den Szenarios steckt die für Futurologen ärgerliche Einsicht, dass der Grad an Unsicherheit dramatisch wächst, je weiter man in die Zukunft schauen möchte. Je kleiner der betrachtete Zeitraum, desto gerechtfertigter ist die Annahme, dass sich Trends gleich schnell wie heute und in derselben Richtung in der Zukunft fortsetzen werden. Erweitert sich jedoch der Prognosezeitraum, muss man desto eher mit technologischen Sprüngen, ökonomischen Umwälzungen sowie mit Verwerfungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich rechnen. Solche Ereignisse sind mehr rat- denn absehbar. Ein Beispiel hierfür sind die großen Zukunftsschauen der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wie etwa jene von Hermann Kahn und seinem Hudson Institute: In dessen Prognose waren die Teilung Deutschlands und der Fortbestand eines starken kommunistischen Ostblocks unverrückbare Größen. Die dramatischen Ereignisse an der Wende zu den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte keines der futurologischen Instrumentarien zu fassen vermocht.Mittels Szenarios versucht man nun, solche Unwägbarkeiten wenigstens ein bisschen wägbarer zu machen. Dazu bedient man sich — bildlich gesprochen — eines mehrgleisigen Denkens: Die Futurologen entwickeln verschiedene, aber gleichermaßen plausible Möglichkeiten dessen, was geschehen könnte, und analysieren daraufhin die künftigen Auswirkungen dieser verschiedenen Szenarios. Zukunft und deren Interpretation erscheinen dabei als eine bestimmte Zahl alternativer Entwicklungsrichtungen. So kann man auch sehr unterschiedliche Zukunftsentwürfe methodisch unter einen Hut bekommen. Szenarios berücksichtigen also bei der weiteren Zukunftsentwicklung unterschiedliche Reaktionen, die von außen auf das System einwirken.Auch hierfür ein Beispiel: Viele Verkehrsprognosen beruhen auf der Extrapolation der zurückliegenden Verkehrsentwicklung. Vereinfacht gesprochen, verlängert man mit dem Lineal etwa die Entwicklung des PKW-Bestands, der verkehrsbedingten Emissionen oder der Stauhäufigkeit der letzten zehn oder zwanzig Jahre. Mittels Szenariotechnik kann man nun unterschiedliche Rahmenbedingungen für die weitere Verkehrsentwicklung annehmen und verfolgen, wie sich unter diesen Bedingungen der Verkehr entwickeln wird.Das erste Szenario — nennen wir es »weiter wie bisher« — beruht auf der beschriebenen Trend-Extrapolation. Ein zweites Szenario — nennen wir es »Hoffen in die Technik« — könnte davon ausgehen, dass technologische Innovationen die heutigen Verkehrsprobleme spürbar entschärfen. Ein drittes Szenario schließlich — nennen wir es »restriktive Eingriffe« — könnte die Verkehrsentwicklung vor dem Hintergrund ordnungspolitischer Maßnahmen wie Verdopplung des Benzinpreises, Fahrverbote zu bestimmten Zeiten, Straßenrückbau oder Straßenbenutzungsgebühren betrachten.Alle drei Szenarios sind gleichermaßen plausibel in dem Sinn, dass alle drei angenommenen Rahmenbedingungen in Zukunft real gelten können. Doch im Ergebnis prognostizieren die drei Szenarios sehr unterschiedliche Zukünfte: Das »Weiter-wie-bisher-Szenario« könnte etwa ergeben, dass Europa im Verkehrschaos versinkt. Das »Hoffen-in-die-Zukunft-Szenario« wiederum würde vielleicht sagen: Auch wenn der noch zunehmende Verkehr und die Emissionsproblematik bewältigbar sind, werden unweigerlich Energie- oder Rohstoffengpässe die limitierenden Faktoren sein. Die Variante »restriktive Eingriffe« mag schließlich zu dem Schluss kommen: Unter diesen Rahmenbedingungen sollten zwar die verkehrsbedingten Probleme abnehmen, aber die gestiegenen Kosten für Mobilität werden viele Waren erheblich verteuern und dadurch Wettbewerbsnachteile für Produzenten nach sich ziehen, die nun unter solchen Bedingungen wirtschaften müssen.Gerade in der Wirtschaftsprognostik steht man jedoch oft vor dem Problem, dass jede Weichenstellung bei den Rahmenbedingungen sehr viele neue Möglichkeiten ins Spiel bringt. Diesem Umstand trägt etwa die von Ökonomen entwickelte Spieltheorie Rechnung. Demnach hängt der (wirtschaftliche) Erfolg einer Strategie nicht nur von der Strategie selbst ab, sondern auch davon, wie die anderen »Mitspieler« darauf reagieren. Die künstliche Verknappung eines Produkts — etwa Rohöl — kann beispielsweise dessen Preis nach oben treiben. Gleichzeitig wird der höhere Marktpreis verstärkte Bemühungen auslösen, nach günstigeren Alternativen — also etwa anderen Energiequellen — zu suchen. Das Problem dabei: Der allgemeine Wandel, die Reaktionen der Konkurrenz oder globale Marktverschiebungen wirken sich zunächst oft nur langsam aus und gewinnen erst später an Dynamik. Bei der Vorhersage mit anderen gängigen Methoden neigt man daher dazu, sie zu übersehen. Mit Szenarios aber kommt man, jedenfalls im Prinzip, selbst bei turbulenten Verläufen noch weiter.Zukunftsräume eröffnenZwar versuchen Szenarios, Abbilder der Zukunft zu erzeugen. Sie liefern aber keine eindeutigen Prognosen. Vielmehr stecken sie nur die Bandbreite der möglichen Zukunftsentwicklung ab. Diese scheinbare Unschärfe ist jedoch gleichzeitig ihre Stärke: Dadurch, dass sie transparent machen, wie sich bestimmte Entscheidungen auf das betrachtete System auswirken, bieten sie die Chance, unter den betrachteten Zukunftsoptionen jene zu wählen, die am günstigsten erscheint. Damit erfüllt die Szenariotechnik den Anspruch von Futurologen wie Flechtheim, Zukunft nicht nur vorherzusagen, sondern im Licht der Szenarios Zukunft zu gestalten.Voraussetzung für brauchbare Szenarios sind möglichst umfassende Fakten aus unterschiedlichen Quellen, die das Problemfeld abstecken. Diese gilt es dann kritisch zu analysieren und interdisziplinär zu erfassen. Dabei sind Kreativität und das Denken in Systemen unerlässlich. Im ökonomischen und politischen Bereich perfektionierten die Zukunftsforscher Hermann Kahn vom Hudson Institute sowie Olaf Helmer und Theodore Gordon von der Rand Corporation in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts diese Methode. Der Mineralölkonzern Shell setzte daraufhin eine eigene Planungsgruppe ein, um mittels Szenariotechnik künftige Entwicklungen des Energiemarkts frühzeitig zu erkennen. Deren Arbeit gilt heute als große Erfolgsgeschichte der Szenarioplanung, denn Shell war als einzige der multinationalen Ölgesellschaften auf die Erdölkrise der 1970er-Jahre vorbereitet und konnte rasch darauf reagieren.Die Wünschbarkeit unterschiedlicher ZukünfteDie Zukunft des Verkehrs ist seit langem in der öffentlichen Diskussion und häufig Gegenstand futurologischer Forschung. Der voranstehende Abschnitt zeigte ein Beispiel dafür, wie sich moderne Futurologen mit Szenariotechniken dem Thema nähern. Dabei ließen die drei Szenarios verschiedene Handlungsansätze erkennen. Vereinfachend lassen sich die Lösungsansätze für die Verkehrsproblematik zwei »Lagern« zuordnen: Die Vertreter des technokratischen Lagers schlagen überwiegend technische Lösungen vor. Gegen überfüllte Straßen setzen sie Verkehrsleitsysteme, als Rezept gegen steigende Unfallzahlen verordnen sie elektronische Fahrerassistenzsysteme, die das Auto sicherer, »intelligenter«, fehlertoleranter machen. Das andere Lager setzt dagegen auf Reglements und andere Mobilitätsstrukturen: Nach dieser Lesart wird der Verkehr etwa durch Tempolimits sicherer, und den Verkehrsinfarkt kuriert man durch zügigen Ausbau öffentlicher Nahverkehrsnetze. Per Preis- und Steuerpolitik dämpft man den Trend zu einer immer höheren Kilometerleistung. Beide »Lager« können anhand praktischer Beispiele zumindest im Einzelfall die Wirksamkeit ihrer Therapien belegen. Doch welcher Strategie man den Vorzug gibt, hängt vom Eigeninteresse und vom eigenen Weltbild ab. Nicht technische Parameter bestimmen also ganz wesentlich die Wünschbarkeit unterschiedlicher Zukünfte.Erneut zeigt sich der Vorzug der Szenariotechnik gegenüber den eher traditionellen Methoden der Futurologie. Denn sie kann die unterschiedlichen Positionen in den Entwurf möglicher Zukünfte einbauen. Und sie muss dies auch tun, um einigermaßen vertrauenserweckend auftreten zu können. Stark technikzentrierte Zukunftsforscher wie zum Beispiel Hermann Kahn griffen mit ihren Prognosen einfach viel zu kurz. Sie versuchten den Eindruck einer funktionierenden Expertokratie zu erwecken, einer intimen Gemeinschaft Eingeweihter, die scheinbar rein sach- und faktenorientiert urteilt. Doch Menschen handeln nicht nur nach Faktenlage. Kein Bereich illustriert dies besser als der Verkehr: Obwohl die Stauprognosen zu Ferienbeginn zu den unbestreitbar zuverlässigsten Zukunftsvorhersagen überhaupt gehören, machen sich Jahr für Jahr noch mehr Urlaubssuchende mit dem eigenen Pkw zur selben Zeit auf den Weg.Auf der anderen Seite stehen die Futurologen mit humanistischer Tradition, die auf dem Weg in eine bessere Zukunft außer der Technik noch andere wichtige Dinge erkennen, beispielsweise, gemäß dem Programm von Flechtheim, eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaften. Diese Sichtweise wirkt natürlich auf die Technikentwicklung zurück. Dem Entscheidungsmonopol von Expertenzirkeln steht nun die Beteiligung aller entgegen, die in irgendeiner Weise von der kommenden Technik betroffen sind.Solche Tendenzen zeigen sich in vielen Gesellschaften. Sie haben Zukunftsforscher wie den US-Amerikaner Alvin Toffler zu Gedanken über pädagogische Systeme angeregt, denn auch die Bildungsplanung ist ein ganz altes Anliegen der Futurologie, das sie aus der Utopie mit übernommen hat. Toffler etwa sieht die Rolle der traditionellen Schulen schwinden, da sie einer Struktur verhaftet bleiben, die ihrerseits am Verschwinden ist: die der klassischen Fabrik. Dagegen bildete sich, völlig informell, in den letzten Jahren eine eigene Form der Wissensaneignung heraus: Millionen von vor allem jungen Menschen, die lernten, den Computer zu bedienen. Nicht etwa in der Schule, sondern im Selbststudium mit Versuch und Irrtum sowie mithilfe von Freunden, die schon etwas weiter waren als sie selbst. Die Wissensvermittlung geschah und geschieht gleichsam selbstorganisiert. Toffler folgert daraus, dass sich durch diese Art gegenseitigen Lernens der Lernprozess vielleicht insgesamt ändert und beschleunigt — fernab harter Schulbänke. Seine Sicht von der Zukunft der Pädagogik berührt dabei die eigentlich spannenden Fragen, welche die Menschheit bewegen. Es geht nämlich gar nicht so sehr darum zu erkunden, welche Inhalte in welchem Umfang in künftigen Schulstunden vermittelt werden sollten oder welches Verkehrsmittel diese oder jene Aufgabe am besten erledigt. Solche Dinge liefern im Grund nur die materielle Grundlage. Wobei dieses Nur allerdings schon so gewaltige Dinge festlegt wie die gesamte Infrastruktur, innerhalb der sich die Gesellschaften entfalten. Aber während diese materiellen Korrelate die Zukunftsforscher exzessiv beschäftigen, widmen sie den dahinter liegenden Fragen oft nur eine Randnote.Die Futurologie selbst gehorcht dabei natürlich Machtinteressen: Mächtige verschiedener Herkunft versuchen sie für ihre Zwecke einzuspannen. Auch das macht die Antwort auf grundsätzliche Fragen nicht leichter. Schließlich ist es einfacher und meist auch wirtschaftlich lukrativer, sich mit den viel klareren technischen Aspekten der Zukunft zu beschäftigen.Futurologie gibt Zukunftsthemen vorHat also die Futurologie angesichts der Probleme in der Welt und ihres hohen Anspruchs versagt? Zumindest gelegentlich hat sie sich durch falsche bis abstruse Vorhersagen lächerlich gemacht. Vor den Herausforderungen der Zukunft hat sie dagegen nicht mehr versagt als Politik, Wirtschaft, die Gesellschaften und Staaten überhaupt. Man kann sie nicht in Alleinhaftung nehmen für Dinge, die auch auf politischer Ebene nicht in den Griff zu bekommen sind. Im Gegenteil: Es waren gerade Studien aus dem Umfeld der Futurologie, die in der Politik und in der Gesellschaft zu einem enormen Ruck führten.Eine Zäsur markiert das Jahr 1968, als die westlichen Gesellschaften von großen Veränderungen gezeichnet waren. Das betrifft nicht allein soziale Erschütterungen wie die Studentenunruhen. Damals nämlich zeigte der Technologieglaube erste deutliche Erschöpfungszeichen; man begann zu ahnen, dass nicht alle Vorräte dem Menschen unerschöpflich zu Gebote stehen; Zerstörungen der Umwelt ließen sich nicht länger als Unfälle, letztlich also als bedauerliche Einzelfälle abtun.In diesem Jahr bildete sich der Club of Rome, und 1972 erschien sein erster Bericht »Die Grenzen des Wachstums«. Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hatten ihn erstellt, mithin eine erste Adresse der US-amerikanischen Wissenschaft. Am Ende erreichte das Buch eine Gesamtauflage von rund zehn Millionen Exemplaren, war in mehr als 30 Sprachen übersetzt und hatte auch auf politischer Ebene für Furore gesorgt. Es problematisiert Themen, die zum intimen Bestand der Futurologie gehören. Und wenn es die Probleme von Wachstum, von der gerechten Verteilung von Ressourcen, von zerstörter Umwelt und dem Dominat materieller Werte in der Gesellschaft auch nicht beseitigen konnte, so hob es doch diese Themen auf eine völlig neue Stufe im öffentlichen Bewusstsein.Auch das von der Futurologie intendierte Ziel, die Welt von Kriegen zu befreien, hat sie nicht erreicht. Doch immerhin lieferte sie den Anstoß dafür, dass sich mit der Friedens- und Konfliktforschung eine mittlerweile eigenständige Disziplin etablieren konnte. Von einem generellen Versagen der Futurologie kann also keine Rede sein. Im Alltag freilich spielt sich alles eine Etage tiefer ab.Deutsche Politiker blicken nach DelphiAuch die deutsche Politik will auf den Ratschluss der modernen Auguren nicht verzichten. Dabei setzt man auf ein umstrittenes Verfahren, das der Delphi-Umfrage. Zweifelhaft ist nicht nur deren methodische Zuverlässigkeit, sondern auch deren Erkenntniswert. Große, zukunftsweisende Entwürfe liefert diese futurologische Methode systembedingt jedenfalls nicht. Futurologie muss eben mehr wagen, als das ein wenig fortzuschreiben, was heute schon am Horizont sichtbar wird. Andererseits gilt auch für Trend- und Zukunftsforscher: Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, droht hinunterzustürzen. Diese Warnung gewinnt umso mehr an Bedeutung, als sich das Paradigma der Rationalität oder »Wissenschaftlichkeit« in unserer Gesellschaft abzunutzen scheint. Schon bieten selbst ernannte Seher an, das schwierige Geschäft mit der Prognostik zu übernehmen.Die deutsche Politik interessierte sich mehrfach dafür, was die Zukunft an Innovation wohl bringen mag. Ihr Interesse war vor allem, den Technologiestandort Deutschland zu erhalten und auszubauen. Dazu bediente man sich der Delphi-Methode, einer differenzierten Form der Expertenbefragung. Sie ist in Japan seit Jahrzehnten gebräuchlich, der erste deutsche Delphi-Bericht erschien 1993. Sozusagen in einer kleinen Zwischenrunde führte man das mehrstufige Verfahren 1995 erneut durch, um die Methodik der Befragung zu verfeinern und vor allem an deutsche Verhältnisse anzupassen.Dann aber startete Ende 1996 Delphi II. Die Projektleitung hatte das Bundesforschungsministerium erneut dem Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung in Karlsruhe übertragen. Dieses Institut hat die Delphi-Methode in Deutschland popularisiert und entsprechende Szenarios, zugeschnitten auf die hiesigen Verhältnisse, daraus abgeleitet. Das Institut versandte daraufhin an rund 7000 Experten aus Industrie und Verbänden, Hochschulen und Forschungsinstituten umfangreiche Fragebögen. Der Forschungsminister bat sie darin um ein Urteil, wie die Welt in fünf, in zehn und in dreißig Jahren aussehen mag. Mehr als ein Drittel der Angeschriebenen schickte die ausgefüllten Bögen zurück.In der ersten Runde war auch ein Kommentar zu 19 Megatrends erbeten, also globalen Zukunftsentwicklungen. Rund die Hälfte der Fachleute sah etwa eine hohe Attraktivität für Deutschland als Investitionsstandort, wenn nur erst nötige Reformen durchgesetzt würden. Ebenso gingen viele davon aus, dass Frauen bald mindestens ein Drittel der Führungspositionen in der Wirtschaft einnehmen werden. Weitgehend einig war man sich darin, dass in einigen Jahrzehnten fossile Brennstoffe weltweit knapp sein werden. Schließlich vermuteten die Experten, die wachsenden Umweltprobleme würden recht bald die Gesundheit der meisten Menschen beeinträchtigen.Das alles ist nun eigentlich nicht besonders überraschend und folgt recht getreulich den gedanklichen Hauptströmungen innerhalb der Gesellschaft während der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Handfestere Informationen lieferten hingegen Aussagen, in denen die Experten Einschätzungen wie etwa die folgenden kommentieren sollten: »Neue Klebstoffe verkürzen die Montagezeit von Automobilen um 20 Prozent« oder »Tumorarten, bei deren Entstehung Viren eine Rolle spielen, können durch eine Impfung verhindert werden«.Zunächst sollten sich die Befragten dazu äußern, ob überhaupt und wann eine solche Entwicklung zu erwarten ist. Doch darüber hinaus sollten sie beurteilen, wie wichtig eine Entwicklung oder Innovation im Fall des Eintretens für Wissenschaft und Gesellschaft, Umwelt und Arbeitsmarkt ist. Schließlich war danach gefragt, welche Probleme daraus im schlimmsten Fall erwachsen könnten.Das Orakel hat gesprochenDoch dies war nur die erste Fragerunde, der eine zweite folgen sollte. Daher sind Delphi-Umfragen extrem aufwendig und erfordern sehr viel Zeit. In der zweiten Runde nämlich bekamen die Experten, die in der ersten Runde geantwortet hatten, die Erstauswertung zur Kenntnis. So wussten sie, wie die anderen denken. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse bat man sie, ihre eigene Einschätzung zu überdenken. In kybernetischen Termini gesprochen, handelt es sich hierbei um einen rückgekoppelten Prozess. Dabei nähern sich, das zeigt die Erfahrung aus früheren solchen Befragungen, die ursprünglich oft sehr individuellen Urteile einander stark an. Dahinter steckt die Überlegung, der am Ende gewonnene »Mittelwert« aus allen Antworten liefere meist auch die solideste und am besten begründete Einschätzung.Schließlich war das Spektrum, welches die vielen Fragen abdecken, so groß, dass keiner der Befragten wirklich überall aus informiertem Sachverstand heraus urteilen konnte. Da jede dieser Fragen zudem Visionen widerspiegelte, konnte die Sicherheit eines Urteils hier und da ins Wanken geraten. Auch deshalb entschlossen sich die Studienleiter zur doppelten Befragung: Die Experten sollten selbst in fachfremden Gebieten durch nochmaliges Nachdenken ein begründetes Urteil abgeben. Nicht mehr zur Debatte standen in dieser zweiten Runde die Megatrends, die weltumspannenden Tendenzen in Politik und Wirtschaft. Mehr als eine Million an Einzelantworten haben die befragten Experten schließlich angehäuft. Aus diesem Antwortenmosaik konstruierten dann die Fraunhofer-Forscher mögliche Zukunftsbilder.Konturen einer möglichen ZukunftInsgesamt 1070 Zukunftsthesen zu zwölf Themengebieten liefern dafür das Rohmaterial. Diese hatte man den Experten vorgelegt, um eine vernünftige Basis zur langfristigen Orientierung aufzubauen. Die Zukunftsbilder möglicher Entwicklungen erstrecken sich dabei auf so unterschiedliche Felder wie Information und Kommunikation, Produktion und Management, Bauen und Wohnen, Verkehr und Raumfahrt.Entsprechend breit streuen die Szenarios und liefern neben manchen Detailaussagen auch eine Reihe von Trends, die bereits recht gegenwärtig anmuten. So verheißt eines der Zukunftsbilder, dass sich innerhalb des nächsten Jahrzehnts neue Unternehmensformen und Strukturen in der Wirtschaft bilden. Die Experten prophezeiten in der Umfrage, dass die Industrie künftig auch bei Forschung und Entwicklung stärker zusammenarbeiten würde, um auf diese Weise knappe Ressourcen besser zu nutzen und sich im scharfen globalen Wettbewerb eine gute Position verschaffen zu können. Das freilich ist für einige Unternehmen schon seit ein paar Jahren Realität.Ferner besagt das Szenario, dass die Mitarbeiter in den Unternehmen künftig selbstständiger handeln dürfen, ja müssen; sie sollen gleichsam als »Mitunternehmer« denken und entscheiden. Das schlägt sich wiederum im Entlohnungssystem nieder; bezahlt wird eher nach dem vom Mitarbeiter erzielten Ergebnis denn nach Aufwand oder Arbeitszeit. Auch diese Entwicklung ist Lesern von Management-Magazinen nicht fremd. Seit Jahren macht sie unter wechselnden Schlagwörtern auf Symposien die Runde und wird zumindest ansatzweise schon in einigen Betrieben praktiziert. Ein dritter Aspekt dieses Szenarios betrifft den Kundennutzen, der nach Ansicht der Experten in den Unternehmen künftig an erster Stelle stehen muss. Daran orientiert sich alles — von der Dienstleistung bis zum Produktdesign. Durch Auslagerung bestimmter Tätigkeitsbereiche, also verstärkten Zukauf zahlreicher Leistungen von außen, sehen die Befragten die Betriebe zu abstrakten Organisationsstrukturen mutieren, die häufig nicht einmal mehr durch einen fixen Standort oder einen festen Mitarbeiterstamm charakterisierbar sind. Und erneut wird man sagen müssen: Diese Zukunft ist gegenwärtige Realität. Unter Begriffen wie dem »Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft«, zum »schlanken Unternehmen« und zum »Outsourcing« vollziehen sich genau diese Entwicklungen mit ungeheurer Dynamik direkt vor unseren Augen.In die gleiche Kategorie fallen auch Vorhersagen, wonach kleine und mittlere Unternehmen Allianzen auf Zeit bilden, um schnell und präzise äußerst spezielle Kundenwünsche bedienen zu können. Der Einzelhandel werde dem Versandhandel immer ähnlicher, von dem er dank neuer informationstechnischer und organisatorischer Möglichkeiten die Vertriebsformen übernehme. Das Internet verstärke noch diese Tendenz und erlaube es, immer mehr Büroarbeit nach Hause zu verlagern. Dies ist ebenfalls in vollem Gang, und die Zahl jener Unternehmer wächst, die eifrig mit am Internet stricken, in der Hoffnung, dort Geld zu verdienen.Szenen aus dem AlltagDie Studie Delphi '98 enthält neben solchen Zukunftsbildern aus der Geschäftswelt von morgen auch zahlreiche Szenarios für den Alltag der kommenden Jahrzehnte. Eines beschreibt etwa das weitgehend automatisierte Wohnumfeld, in dem sich der Heimcomputer nebst umfangreicher Kontrollperipherie gleichsam zum Hausverwalter aufgeschwungen hat, der zum Beispiel seine Herrschaft an der Türpforte erkennt und einlässt, während er Fremden den Zutritt verweigert, und der Lebensmittel gemäß den Vorlieben der Bewohner selbstständig ordert, sobald die Vorräte zur Neige gehen. Das Haus selbst wird zukünftig dank flexibler Bauweise schnell auf sich wandelnde Bedürfnisse umstellbar sein, indem man einfach die Zimmeraufteilung ändert. Vor diesem Haus sehen die Experten ein Zwei-Liter-Auto stehen, das auch ohne Katalysator nur geringe Mengen an Schadstoffen emittiert. Das Fenster, durch das man den mobilen Saubermann draußen stehen sieht, besteht nicht aus gewöhnlichem Fensterglas, sondern produziert dank seiner transparenten Solarzellen den Strom für den Haushalt.Hinter den Energie spendenden Fenstern aber kommunizieren die zuhause arbeitenden Bewohner via Internet mit ihren Arbeitskollegen. Denn die Struktur der Arbeit hat sich inzwischen stark gewandelt, Computernetze bringen Kunden und Kollegen ohne Zeitverlust zusammen. Sie transportieren nicht nur nackte Daten, sondern auch Videosequenzen und Sprache um den Globus, und zwar automatisch in alle denkbaren Sprachen übersetzt — eine große Erleichterung, schließlich ist es mittlerweile üblich, dass man ständig mit wechselnden Firmen in Kontakt tritt.Allzu vertraute BilderVerglichen mit manchen Prognosen, die in früheren Jahren aus den USA zu uns herüberschwappten, wirkt die Zukunft, wie sie in dieser Delphi-Studie greifbar wird, in vielem doch sehr vertraut. Hier zeigt sich erneut das Grunddilemma jeglicher Zukunftsschau: Je näher man sich im Umfeld der gegenwärtigen Wirklichkeit bewegt, desto weniger aufregend sind die Aussagen. Und umgekehrt: Je fantastischer die Prognosen, desto schwieriger ist es, die prognostizierte Zukunft als methodisch sauber destilliert zu legitimieren — sie also mit Fug und Recht über den Status von frei assoziierter Science-Fiction zu heben.Dennoch kann man ein wenig provokativ fragen, wem denn die Zukunftssicht der Delphi-Studie nun wozu nützen soll. Zumindest für die Auftraggeber im Bundesforschungsministerium ist die Antwort klar. Eine solche technische Vorausschau gilt ihnen nicht nur als Stimmungsbarometer, sondern zugleich auch als Katalysator für Innovationen. Sie liefert eine solide Grundlage für die öffentliche Diskussion und kann zudem die Aufmerksamkeit auf neue, bedeutsam werdende Forschungsfelder lenken. Für das Ministerium als Forschungsförderer dient eine solche Studie daher auch als Entscheidungshilfe dafür, in welche technologischen Bereiche zukünftig die Fördermittel für eine »Anschubfinanzierung« fließen sollen.Sehr viel wichtiger ist es indes, über den äußeren Anschein schöner neuer Technikwelten hinaus danach zu fragen, was diese für Folgen zeitigen könnten. Diese Frage zielt letztlich auf eine gesellschaftliche Weichenstellung ab, nämlich ob man eine bestimmte Richtung einschlagen soll oder besser nicht. In den zurückliegenden Arbeiten vieler technikzentrierter Zukunftsforscher fehlen Aussagen zu diesem wichtigsten Aspekt völlig. Immerhin verweisen die Initiatoren der Studie Delphi '98 darauf, man habe erstmals die Experten auch danach befragt, aus welchem Grund es bedeutungsvoll sei, diese oder jene technische Leistung zu realisieren. Die Befragten sollten etwa angeben, ob eine bestimmte technische oder wissenschaftliche Innovation ganz allgemein dazu dient, das Wissen zu mehren, ob sie Wirtschaft und Gesellschaft weiter voran bringt, ob sie eines der ökologischen Probleme lösen hilft oder ob sie neue Arbeitsplätze schafft. Ebenfalls erstmalig befragte man die Experten zu den Folgen der prognostizierten Technikentwicklungen. Sie sollten sich dazu äußern, ob durch die Anwendung bestimmter Technologien Probleme für das soziale System, das gesellschaftliche Zusammenleben oder für die Umwelt entstehen könnten. Außerdem wollte man von den Befragten wissen, ob sie Wege sehen, wie sich die von ihnen befürchteten negativen Folgen vermeiden lassen.Die gestalterische Kraft der technologischen BrücheEs drängt sich natürlich die Frage auf, wie der Charakter einer solchen Befragung das Ergebnis beeinflusst. Für diese Delphi-Studie legte ein Gremium mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Medien die erwähnten zwölf Themenfelder fest. Die einzelnen Zukunftsthesen, die zu beurteilen waren, legten wiederum andere, mit Experten besetzte Ausschüsse fest.Vom Ansatz her ist ein solches Studiendesign eher konservativ, da es in gewisser Weise den gegenwärtigen Status quo für die weitere Entwicklung festschreibt. Verläuft diese geradlinig und ohne Brüche, so wird die Prognose auch nicht allzu weit vom tatsächlichen Zukunftszustand abweichen. Allerdings zeigt schon der flüchtige Blick auf die Geschichte der Technik neben der Stetigkeit der Entwicklung ein gegensätzliches Element, nämlich die ungeheuer verändernde Kraft von Brüchen und Sprüngen. Es sind die großen Innovationen, die dann wirklich umwälzende Veränderungen nach sich ziehen. Solche Brüche und Technologiesprünge im Voraus zu erkennen entzieht sich weitgehend dem Delphi-Ansatz, der eher den gedanklichen Hauptstrom der Expertensichten zu Tage fördert. Schon das Studiendesign mit den beiden Befragungswellen sorgt dafür, dass Einzelgängermeinungen und Einschätzungen von Querdenkern, deren Sichtweise vielleicht von der Majorität der Kollegenschaft belächelt wird, bei der Auswertung gleichsam als Ausreißer behandelt, also vernachlässigt werden. Den großen futurologischen Wurf darf man daher von einer Delphi-Studie nicht erwarten.Was man überhaupt noch nicht kennt, das kann man auch nur schwer in Fragen fassen. Wir wissen einfach nicht genau, wie und unter welchen Umständen solche sprunghaften Prozesse ablaufen. Vergleichbar ist dieses Phänomen mit dem kreativen Prozess des Erfinders. Er findet Neues eben gerade nicht auf den klar ausgeschilderten Wegen, mit denen die Techniklandschaft durchzogen ist. Doch wie sich ein technisch innovatives Klima erzeugen lässt, dazu liefert auch die Innovationsforschung allenfalls Ansatzpunkte. Bislang jedenfalls verweigert sich der schöpferische Akt einer Institutionalisierung.Neue Gefahren bedrohen die FuturologieTrotz aller Fehlurteile und Begrenzungen hat sich die Zukunftsforschung als vollwertige wie auch wertvolle Wissenschaftsdisziplin etablieren können. Der Streit um die Validität und Reliabilität wissenschaftlicher Methoden in der Futurologie spricht schließlich nicht gegen die Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin, sondern gehört gleichsam zum Tagesgeschäft jeder Forschungsrichtung. Jede Methode in jeder Disziplin muss regelmäßig auf den Prüfstand, um sicherzustellen, dass sie robuste Ergebnisse liefert.Und auch die Tatsache, dass futurologische Analysen über ihren Forschungsgegenstand — die Zukunft — »lediglich« Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten, niemals jedoch Gewissheiten vermitteln können, unterscheidet diese Disziplin nicht grundsätzlich von anderen Wissenschaften. Selbst die Physik — als Inbegriff einer »exakten« Wissenschaft — musste in dieser Hinsicht schon herbe Lektionen hinnehmen: Lange Zeit glaubten die Physiker, Phänomene mithilfe von Naturgesetzen eindeutig beschreiben und mittels Theorien das Verhalten physikalischer Systeme sicher prognostizieren zu können. Nicht erst mit der Quantenphysik, doch spätestens ab da für alle Welt offenbar, hielt auch hier die Wahrscheinlichkeit Einzug. Trotzdem liefert die Physik noch immer treffliche Ergebnisse und exakte Zustandsbeschreibungen, man muss nur in bestimmten Fällen sorgfältiger mit den Begriffen umgehen, als das früher vielleicht der Fall gewesen ist.Heute droht der Futurologie von ganz anderer Seite Gefahr: Mit Zeitgeistströmungen wie New Age und Esoterik etablieren sich neue Wahrnehmungsmuster in der Gesellschaft. Sie stellen das rationalistisch geprägte Weltbild der Wissenschaftskultur teils gänzlich in Frage, zumindest aber geben sie ihm ein metaphysisches zur Seite. Die Vertreter dieser Richtung lauschen nun in übersinnliche und außersphärische Gefilde hinein, um Diesseitiges zu erkennen oder solches jedenfalls einer aufnahmebereiten Klientel zu suggerieren. Sollten auch sie den Anspruch erheben, Zukunftsforschung zu betreiben, dann freilich wäre zumindest dieser Zweig der »Futurologie« am Ende doch bei der Astrologie, wenn nicht gar beim Lesen im Kaffeesatz und dem Hineinstarren in Kristallkugeln gelandet.Dipl.-Phys. Bernd EusemannGrundlegende Informationen finden Sie unter:Zukunftsforschung: Prognose und ZukunftsgestaltungDELPHI '98 Umfrage. Studie zur globalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik, herausgegeben von Kerstin Cuhls u. a. 2 Bände. Karlsruhe 1998.Flechtheim, Ossip K.: Futurologie — Möglichkeiten und Grenzen. Frankfurt am Main u. a. 1968.Modis, Theodore: Die Berechenbarkeit der Zukunft. Warum wir Vorhersagen machen können. Aus dem Englischen. Basel u. a. 1994.
Universal-Lexikon. 2012.